Modern Times oder: Vor Phrasenkletterern wird gewarnt Wa(h)re Literatur im Wahlkampf verlangt den engagierten Kampf um Literatur. Gastkommentar von Werner Welzig

Der Autor ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Wien.

Gertraud Knoll, evangelische Superintendentin des Burgenlandes, wurde von SPÖ-Vorsitzendem Alfred Gusenbauer als weitere Überraschungskandidatin für sein Regierungsteam präsentiert. Knoll ist vorgesehen als Staatssekretärin im Sozialministerium für neue soziale Fragen und Generationen. Gusenbauer erklärte (...), in diesem Bereich brauche man eine "Mutter Courage". (...) Knoll begründete ihren Wechsel in die Politik damit, daß (...) Gusenbauer (...) "meint, was er plakatiert": "Weil der Mensch zählt". (www.diekampagne.spoe.at)

Die bürgerliche Literaturkritik findet es bitter, so stellt Werner Mittenzwei 1977 fest, daß der bedeutendste deutsche Dramatiker sich nicht auf ihrer Seite befindet, daß der sozialistische Weg Brechts sich ihrem Verständnis nicht erschließt. Angesichts einer solchen Feststellung wage ich nicht, den Vorsitzenden einer sozialistischen/sozialdemokratischen Partei aufmerksam zu machen, was dieser berühmte Titel erschließt, den Gusenbauer zur Belebung des Wahlkampfes in seine "Kampagne" aufgenommen hat. Es sei mir gestattet, jenen, die mit der sozialistischen Überzeugung Bertolt Brechts weniger vertraut sind als dies ein langjähriger Bundesobmann der Sozialistischen Jugend, Vizepräsident der Sozialistischen Internationale und nunmehriger Parteivorsitzender der SPÖ sein müßte, einige Sätze aus "Mutter Courage und ihre Kinder" in Erinnerung zu rufen. Der "Presse" danke ich für die Möglichkeit eines Beitrages zur "anspruchsvollen Kulturtechnik des Lesens" (Pisa-Studie).

Mutter Courage (...) "Ich geh jetzt mit dem Feldprediger eine katholische Fahn einkaufen und Fleisch. So wie der kann keiner Fleisch aussuchen, wie im Schlafwandel, so sicher. Ich glaub, er merkts gute Stückl dran, daß ihm unwillkürlich das Wasser im Maul zusammenläuft. Nur gut, daß sie mir meinen Handel erlauben. Ein Händler wird nicht nach dem Glauben gefragt, sondern nach dem Preis. Und evangelische Hosen halten auch warm." - -

Der Feldprediger "Wie Sie so Ihren Handel führn und immer durchkommen, das hab ich oft bewundert. Ich verstehs, daß man Sie Courage geheißen hat." - -

Der Feldprediger "Sie sollten sich nicht am Frieden versündigen, Courage! Sie sind eine Hyäne des Schlachtfelds."

Mutter Courage: "Was bin ich?" (...) - -

Mutter Courage spannt sich vor den Wagen: "Hoffentlich zieh ich den Wagen allein. Es wird schon gehn, es ist nicht viel drinnen. Ich muß wieder in Handel kommen." - -

Nein, brechen wir ab. Episches Theater ist nicht mit Zitaten wiederzugeben. In den "Anweisungen zur Regie Bertolt Brechts" heißt es:

"Die Geschichte von Mutter Courage und ihren Kindern: Die Marketenderin Anna Fierling, genannt Mutter Courage, zieht mit ihren drei Kindern in den Krieg, um Geschäfte zu machen. Sie verliert nacheinander ihre drei Kinder und verarmt. Unbelehrbar, zieht sie allein weiter."

Mein Verdacht lautet: Der Sozialist Gusenbauer hat vom Sozialisten Brecht keine Ahnung. Wahrscheinlich addiert er, wenn er "Mutter Courage" sagt, die bürgerlichen Vorstellungen von "Mutter" und von "Courage" und hält beides für seine Kampagne brauchbar. Doch vielleicht hat er gar nicht an Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" gedacht, vielleicht hat er Grimmelshausens "Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche" gemeint. In jedem Fall gehört die Kandidatin gewarnt - siehe Titel.

Dieser Kommentar drückt die persönliche Meinung des Autors aus.